Presse

Ein Hobby, eine Leidenschaft, ein Virus

Gekurbelte Musik

von Lucas Huber

In der Rubrik «Ein-Blick» gewährt die «Schweiz am Wochenende» den Lesern Einblick in die Mikrokosmen unserer Gesellschaft. Die Redaktoren beleuchten lustige Vereine, angefressene Sammler oder abgedrehte Nerds. Natürlich kann sich melden, wer sich angesprochen fühlt.         

Wer fragt, wie man mit einer Drehorgel umzugehen hat, erhält eine plausible Antwort: «Wie mit einer Frau: mit viel Gefühl.» Der das sagt, heisst Daniel Widmer, trägt ein «Feierabend-Käppli» und hat stets einen Affen bei sich. Zumindest dann, wenn er auf seiner Drehorgel spielt. Und das ist nicht gerade selten der Fall. Und schon ist Drehorganist Widmer, 59-jähriger Siegrist, mittendrin im Schwärmen. Sein Zuhause in Binningen ist nämlich nicht nur Wohnung, sondern auch ein kleines Museum. Ein Drehorgelmuseum mit eigenem Orgelzimmer. Mit seiner Frau Esthi ist er der Drehorgel seit 33 Jahren verfallen.

Das erübrigt natürlich die Frage, was die Widmers für das Instrument Drehorgel empfinden. Das ist nämlich mehr als Faszination, mehr als Hingabe, Verzückung und Leidenschaft. «Wenn die Kirchenorgel die Königin ist», sagt Daniel Widmer und lächelt sein charmantes Lächeln, «dann ist die Drehorgel die Prinzessin.» Diese Prinzessin hat eine genauso bewegte wie bewegende Geschichte. Sie ist die Urform mechanischer Musik und liegt dabei nicht nur der Konservierung und also Speicherung des Klangs zugrunde, sondern auch, zumindest vom Prinzip her, der Funktionsweise des Computers. So erklärt er das auch Kindern, die sich für das Instrument interessieren. Wer also digital denkt, darf die Drehorgel getrost mitdenken.

Deren musikalisches Repertoire reicht vom traditionellen Volkslied bis zum Kirchenchoral, vom Walzer bis zum Musical und von klassischen Stücken, die Haydn und Mozart eigens für den Leierkasten komponierten, bis hin zum Schlager. Helene Fischers «Atemlos» machte auch auf der Drehorgel zünftig Furore. Doch das seien, erklärt Daniel Widmer, zumeist Strohfeuer.

Lediglich die Klassiker schaffen es, die sich über die Generationen zu halten. Wie übrigens auch die Instrumente, deren Preise bisweilen in astronomische Höhen steigen. Wenn das Ehepaar Widmer zu einem Treffen fährt – ob in Thun, Berlin oder dieses eine Mal nach Japan – ist der Wert ihrer beiden Orgeln jedenfalls höher als jener des Autos, in dem sie gefahren werden – und zwar deutlich. Zurück im «Museum» der Widmers.

Das entstand, wie Dinge entstehen, wenn eins zum anderen kommt und zwei Herzen für eine Sache brennen. Daniel Widmer wirft zehn Rappen in den Automaten, der einen am Eingang begrüsst, eine Lochscheibe wird in Rotation versetzt, und der charakteristische Pfeifenklang ertönt. Das Gerät stand einst in einem Restaurant, denn Drehorgelautomaten sind nichts anderes als die veritablen Vorgänger der Jukeboxes.

Die Basler Drehorgelfreunde, rund zwei Dutzend Enthusiasten, zu denen auch die Widmers gehören, pflegen ihr Hobby mit Herzblut. Einmal monatlich tauschen sie sich aus, fachsimpeln, schwärmen. Natürlich spielen sie auch regelmässig in Alters- und Behindertenheimen, in Kirchen oder an Kongressen. Und nun noch zum Affen. Der ist natürlich nicht echt. Doch seine Anwesenheit soll eben genau an jene Vorgänger erinnern, die tatsächlich echt waren. Einst begleiteten nämlich abgerichtete Kapuziner- oder Rhesusaffen die Musikanten – als zusätzliche Attraktion. Und zum Einsammeln von Münzen. Denn die Drehorgel war einst das Instrument der Strassenmusiker schlechthin. Als Gaukler und Troubadoure zogen sie spielend durchs Land.

So spielt auch Daniel Widmer am liebsten: mit direktem Kontakt zum Publikum. Das höchste Gefühl sei, die Freude des Publikums zu spüren. Und sie in ihren Augen zu sehen. Daniel Widmer ist OK-Präsident des Internationalen Drehorgel-Wintertreffens in Lausen, das am 28. Januar 2018 zum vierten Mal stattfindet. Nachdem sich der 60. Drehorganist angemeldet hatte, hat er einen Aufnahmestopp verhängt.

Lucas Huber


Alles dreht sich um die Orgeln Im Gleichklang
von Meta Zweifel
Das Binninger Ehepaar Daniel und Esther Widmer sammelt Drehorgeln Daniel Widmer ist beim Basler Gesundheitsdepartement Leiter Hausdienst und Registratur, Esther Widmer arbeitet am Universitätsspital als Pâtissière. Das Paar wohnt bei Basel und teilt seit mehr als 25 Jahren das gleiche Freizeitvergnügen: Drehorgeln sammeln und spielen.

Betritt man ihre Wohnung, erkennt man die Interessenlage der Widmers auf den ersten Blick. Schon im Flur steht eine wunderhübsch bemalte Drehorgel und an den Wänden versammeln sich Fasnachtsplaketten-Sammlungen mit gerahmten Drehorgel-Dokumenten von Festivals von Niederuster bis Berlin, von Gossau bis Wien. Daniel Widmer verhehlt nicht, den staunenden Besucher darauf hinzuweisen, dass ihn der bisher weiteste aller Auslandtrips 1999 nach Japan geführt habe. An einem Festival im innerschweizerischen Sarnen hatte sich eine Gruppe japanischer Touristen von Widmers Orgelklängen begeistern lassen. Tags darauf meldete sich ein Herr Ohaschi und lud Widmer zu einem sechs Wochen dauernden Auftritt in einem Vergnügungspark mit dem sinnigen Namen "Die kleine Schweiz" ein. "Orgel schon da, aber Frau kann nicht mit-kommen", beschied der japanische Auftraggeber nicht eben freundlich. Den Impuls für unsere Drehorgel-Leidenschaft hat Paul Schulze gegeben, das leider verstorbene Basler Drehorgel-Orginal. Ich engagierte Paul zu meinem 25. Geburtstag. Und bin dann sozusagen angekurbelt worden, erinnert sich Widmer. Nachdem er und seine Frau an einem Thuner Drehorgel-Festival die fröhliche Kameradschaft unter den Drehorgel-Freunden erlebt hatten, stand der Entschluss fest, selbst ein Instrument zu erwerben und der Drehorgel-Gilde beizutreten. Heute können die Widmers in einem Zimmer eine ganze Reihe von Orgeln zeigen. Die Auswahl reicht vom Bauch-örgelchen bis zur konzertanten Orgel. Reich ist auch das Sortiment an Bändern, Platten, Walzen und Faltkartons, die "Software" – wie Daniel Widmer sagt –, mit der die Orgeln zum Klingen gebracht werden. Wer Drehorgeln besitzt, lernt auch Orgelbauer kennen und knüpft so Kontakte über die Grenzen hinaus. Die erste Drehorgel sei im 18. Jahrhundert von Johann Daniel Silbermann aus der berühmten Orgelbauerfamilie entwickelt worden. Vorläufer seien die "Serinetten" gewesen, die Vogelorgeln, mit deren Hilfe man in Käfig gehaltenen Vögeln melodiöses Zwitschern beigebracht habe.
Tanzbär und Tanzpüppchen

Die Widmers treten meist als Paar auf. Sie orgeln aber nicht synchron. "Das braucht zu viel Training und Aufwand", so Esther Widmer. Sie ist vor allem begeistert von der Melodienvielfalt der Orgeln: "Unser Repertoire reicht von Chorälen bis zu Opern- und Operettenmelodien, vom ‹Phantom der Oper› und anderen Musical-Hits bis zu volkstümlichen Klängen oder Advents-und Weihnachtsliedern". Was immer gespielt werde, müsse mit viel Gefühl für den Rhythmus und die jeweils notwendige Luftzufuhr der Orgel interpretiert werden. "Man darf nicht einfach drauflos leiern". Esther Widmer ist die Gewandmeisterin im Team. Sie stöbert auf Flohmärkten nach Teilen, aus denen sich zum jeweiligen Auftritt ein passendes Kostüm zusammenstellen lässt. Stolz zeigt die örgelifrau eine Baselbieter-Winter-Sonntagstracht, die sie jüngst geschenkt bekommen hat. Daniel Widmers Garderobe ist ebenfalls vielfältig, er kann als Graf Daniel, im Folklorestil, aber auch als "Santiglaus" oder als Kutscher auftreten. Oder er sorgt im Kunstpelzgewand und mit mächtiger Bärenmaske als Tanzbär für Furore. Esther Widmer hat früher Ballett getanzt, "und jetzt trete ich manchmal als Tanzpüppchen auf, mit abgezirkelten Bewegungen, wie man dies bei manchen Figuren an Jahrmarktsorgeln sieht."
Vielfältige Publikumsreaktionen

Die Widmers spielen bei Apéros, drehen an Hochzeitsfesten oder bei Vereinsanlässen die Kurbel. Vor einem Auftritt wird abgesprochen, welche Musikrichtung gewünscht ist, ob eher "Schacher Seppli" oder Offenbachs "Cancan", "Aida" oder "Radetzky-Marsch". Lachend erinnern sich die beiden an ihr Engagement bei einer grossen russischen Hochzeit in einem Basler Nobel-Hotel: "Zum Auftritt gehörte – man denke an die Symbolfigur des russischen Bärs – der Tanzbär, der an einem Seil in den Saal geführt wurde. Die Gäste waren begeistert. Aber das Hotelpersonal reagierte ungnädig und fand, diese Darbietung passe nicht zur vornehmen Ambiance des Hauses."

Zur klassischen Drehorgel gehört der Stoffbeutel, in dem früher der Orgelmann die gespendeten Batzen sammelte. Begeisterte Zuhörer lassen manchmal aus Spass ein Geldstück in den Beutel einer Widmer-Drehorgel gleiten. Daniel Widmer: "Einmal hat jemand die Münzen aus dem Beutel geklaubt. Mit der Begründung, wir bekämen ja schliesslich Gage." Wenn einer eine Drehorgel dreht, dann kann er was erzählen".

Copyright © by Basellandschaftliche Zeitung Liestal 22.09.2007